Mein Pakt mit „Addison“

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann es begann. Sicher ist aber, dass ich im Herbst 1990, nach wunderbaren Tauchferien am Roten Meer, fast täglich mit Übelkeit zu kämpfen hatte. Der Besuch beim Tropenarzt verlief ohne Befund und ein Medikament gegen Übelkeit half nur vorübergehend. Wieder zurück beim Arzt meinte dieser, es seien bei mir keine „Käfer“ festgestellt worden, die Werte seien normal, ich sei gesund und es könne gar nicht sein, dass es mir derart schlecht gehe. Ich war völlig vor den Kopf gestossen, spürte ich doch, dass etwas mit mir nicht stimmt.

Die Übelkeit, die von hoch oben unter dem Rippenbogen herzukommen schien, hielt an. Dauernde Abgeschlagenheit und ein immenses Schlafbedürfnis kamen dazu. Wenn immer möglich legte ich mich hin, schlief sofort ein. Mein soziales Umfeld hatte nur bedingt Verständnis für meine Klagen. Schliesslich war meine Haut schön gebräunt und ich sah rundum gesund aus. Auch ich selber zweifelte immer wieder an mir, spürte ich mich richtig – was war das? Die Tage, an denen es mir gut ging, wurden immer seltener. Eine bleierne Müdigkeit begleitete mich durch den Tag und meistens war mir grottenschlecht. Als eines Tages wieder einmal gar nichts ging, rief ich bei einem Allgemeinmediziner in der Nähe des Wohnortes an, bekam einen Termin ein paar Tage später. Ich hatte Angst vor dem Arzttermin, der letzte seines Faches hatte mir ja gesagt, ich sei gesund.

Ich hatte Glück, der Arzt wies mich mit Verdacht auf Morbus Addison ins Universitätsspital Zürich ein. Der sehr tiefe Blutdruck, die braune Hautfärbung, dunkle Lebenslinien in beiden Händen, dunkle Streifen auf den Fingernägeln und rote Pünktchen auf dem Zahnfleisch (ich habe diese allerdings nie gesehen) seien für ihn klare Anzeichen für diese Krankheit.

Ihm Spital angekommen, stützte die erstbehandelnde Notfallärztin des USZ die Diagnose des Allgemeinmediziners nicht. Die von mir beschriebene Müdigkeit und Übelkeit sei wohl eher auf eine schwere Verstopfung zurückzuführen. Da war er wieder – der Vorwurf einer Ärztin gar nicht krank zu sein. Hätte ich die Kraft gehabt aufzustehen und davonzulaufen, ich hätte es wohl getan. Aber es ging nicht. Ich konnte einfach nicht mehr. Nachdem mir die Assistenzärztin erklärt hatte, dass sie mich nicht ohne Einverständnis des Oberarztes entlassen könne, wartete ich. Es dauerte und dauerte. „Gefühlte“ Stunden später kam endlich der Oberarzt und untersuchte mich. Schlagartig war ein riesiges Gewimmel um mich herum, ich wurde an Überwachungsmonitore angeschlossen und innert Kürze lag ich zwischen Schläuchen und Infusionen. Der gerufene Endokrinologe hatte die Stunden zuvor gestellte Diagnose des Hausarztes gestützt: Morbus Addison, eine primäre Nebenniereninsuffizienz. 

Einerseits war ich erleichtert, dass nun eine Diagnose, ein Name, für das was ich hatte, auf dem Tisch war. Ich hatte mich nicht getäuscht, hatte mich richtig gespürt, war krank. Die Erklärungen des Arztes zur Diagnose aber schockierten mich. Keine Aussicht auf Heilung, nie mehr im Leben ohne Medikamente, nie wieder ohne ärztliche Behandlungen auskommen. Die Endgültigkeit der Krankheit wirkte bedrohlich. Das Gesundsein, so wie es vorher war, wird nie mehr sein. Warum gerade ich? Ich war wütend, verzweifelt, hatte Angst vor der Zukunft, vor weiteren Erkrankungen. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Krankheit (unzählige Artikel und Beschreibungen aus dem Netz), viele Gespräche mit Ärzten, Familie und Freunden führten dazu, dass ich mich mit Entschlossenheit der Krankheit stellte und wieder Boden unter den Füssen bekam.

Bei meiner Arbeit merkte ich schnell, dass sich die Medikamenteneinnahme und der Schichtdienst nicht optimal aufeinander abstimmen liessen. Glücklicherweise konnte ich innerbetrieblich die Stelle wechseln. Am neuen Arbeitsort wurde ich durch meinen Vorgesetzten gefördert, konnte verschiedene berufsbegleitende Ausbildungen machen, ging in der Arbeit auf. Ich organisierte zwar mein ganzes Leben neu, die Angst vor dem Fortschreiten der Krankheit war aber allgegenwärtig. 

Ein Artikel mit dem Titel „Krankheitsbewältigung, jeder findet seinen Weg“ in der Glandula (Nr. 22) gab mir schliesslich wieder einen neuen Impuls. Meine Ängste wurden dort so präzise und treffend beschrieben, dass ich das Gefühl hatte, dass die Verfasserin mich gut kennt. Diese nochmalige Auseinandersetzung mit der Krankheit führte dazu, dass ich mich mit „ihm“, dem „Addison“ versöhnte. Ich schloss quasi einen Pakt mit „ihm“: ich gebe „ihm“ alles was „er“ braucht (strikte, regelmässige Medikamenteneinnahme), dafür lässt „er“ mich in Ruhe (keine weiteren Erkrankungen). „Er“ – der Addison –  gehört dazu, bestimmt aber nicht mehr mein Leben. Immer wieder verlängere ich den Vertrag.

Mit IndoorCycling, Nordic Walking und Golf habe ich zwischenzeitlich sportliche Betätigungsfelder gefunden, die mir unheimlich Spass machen und auch mit der Krankheit problemlos durchführbar sind. Da ich gemerkt habe, dass hauptsächlich Fieber und Durchfall meine Medikamenteneinnahme und damit mein Wohlbefinden durcheinander bringen, lasse ich mir die jährliche Grippeimpfung verabreichen und vermeide es Länder zu bereisen, in denen schwere Krankheiten (Malaria/Dengue etc.) vorkommen. 

Ich achte sehr darauf, dass ich körperliche Überforderung vermeide, habe gelernt „Nein“ zu sagen, zu akzeptieren, dass einige Dinge einfach nicht mehr gehen. Diejenigen Menschen, die mir wichtig sind, können dies problemlos akzeptieren. Mein näheres Umfeld (und auch die Arbeitskollegen/-Kolleginnen) habe ich über meine Krankheit informiert. Alle wissen, dass ich einen Notfallausweis und Notfallmedikamente bei mir trage und bei einem Schwächeanfall/Bewusstlosigkeit oder Unfall mit den entsprechenden Hinweisen unverzüglich ins Spital muss.

Vor 28 Jahren wurde bei mir die Diagnose „Morbus Addison“ gestellt. Bis vor 3 Jahren habe ich mit Vollbeschäftigung (100%) gearbeitet. Aktuell bin ich noch 3 Tage in der Woche berufstätig. Natürlich ging es mir in dieser Zeit nicht immer gut. „Mein Addison“ hat sich nicht ganz an unsere Abmachung aus früheren Jahren gehalten. Andere Autoimmunkrankheiten kamen dazu und meine Medikamentenliste wird immer länger. Die Nebenwirkungen hinterlassen deutliche Spuren (grauer Star, Osteoporose). „Unter dem Strich“ geht es mir aber immer noch gut und ich versuche, meinen Tagesablauf so zu gestalten, dass ich möglichst nahe am „Normalen“ bin. 

Ich habe gemerkt, dass ich mehr Energie habe, wenn ich meine Hydrocortisontabletten pingelig genau, immer zum gleichen Zeitpunkt, einnehme und die Dosis bei körperlichen Belastungssituationen konsequent anpasse.

Aktuell bereitet mir aber ein Punkt echte Sorgen. Das vom Endokrinologen eigens für mich festgelegte Medikamentenschema kann bei einem stationären Spitalaufenthalt nur dann eingehalten werden, wenn ich die Medikamente bei mir behalten und selbständig einnehmen kann. Bereits zwei Mal (zuletzt im Januar 2018 bei einer Knieoperation) habe ich erlebt, dass mir die persönlichen Medikamente beim Spitaleintritt abgenommen wurden, obwohl ich die Medikamentenliste meiner behandelnden Endokrinologin mit dabei hatte. Offenbar besteht in einzelnen Spitälern die strikte Weisung, dass nur ausgebildetes Pflegepersonal während dem Spitalaufenthalt Medikamente abgeben darf. Die Medikamentenverteilung erfolgt dann aber zu festgelegten Zeiten, zum Frühstück/Mittag/Abend/Nacht. Eine flexible Ausgabe wie, 30 Minuten vor dem Frühstück oder alle 6 Stunden, war nicht, bzw. nur schwer zu organisieren. Eine Situation, die für meine gesundheitliche Problematik nicht ausreichend war und zu unschönen Diskussionen führte. Was passiert aber, wenn ich einmal im Spital liege und nicht selber fähig bin die Medikamentenabgabe zu überwachen, zu hinterfragen und auch ausserhalb der ordentlichen Abgabezeiten einzufordern? 

Ende Juli 2019 werde ich nun pensioniert. Ich freue mich auf den neuen Lebensabschnitt und hoffe, dass ich die neue Freizeit über weite Strecken ohne gesundheitliche Probleme geniessen kann. 

Euch Allen wünsche ich viel Kraft um schwierige Situation zu meistern und sich dem Schicksal zu stellen.

Alles Gute. S.